Montag, 2. Januar 2023

yukko

Der Tod präserviert die Erinnerung an den Lebenden. Die, die jung von uns gehen, bleiben für immer jung bei uns. Die Schönheit der Jugend bleibt für immer erhalten; mit ihr der Eifer, die Energie, die Unschuld, die Aggression und die Naivität.


Sie wird für immer eine Teenage-Pop-Sensation bleiben, egal wie viele Jahre seitdem vergangen sind. Sie wird niemals erleben, wie ihre Karriere sich zum Schlechteren wendet, wie ihre Anhänger das Interesse an ihr verlieren, wie sie zu billigen Kunstgriffen greifen muss, um ihre Relevanz im öffenttlichen Auge aufrechtzuerhalten, wie sie sich unter ihrer Würde verkauft, um Jahrzehnt für Jahrzehnt die gleichen Lieder über die jugendlichen Liebe zu singen, vor einem Publikum, das schon lange nicht mehr weiß, was aktuell in den Charts läuft und immer über die guten alten Tage spricht, während sie die neue Generation als einen nutzlosen Haufen bezeichnet, die es nicht so machen konnten, wie wir es damals machen konnten.

Doch angesichts dessen, dass sie nun nicht mehr bei uns sind, müssen die vorangegangen Nachteile nicht als solche aufgefasst werden, sondern als Privileg: Es ist ein Privileg, einmal oben gewesen zu sein und jetzt unten zu landen; man kennt die Höhen des Lebens und die Tiefen - man weiß irgendwann, beide Seiten zu schätzen, man erzählt nun: "Damals tat ich dieses und jenes", voller Stolz, immer die gleichen Geschichten, bis die Zuhörer sich übergeben müssen. Und wenn man nicht zu faul ist, dann versucht man sich neu zu erfinden, denn der Mensch ist ein anpassungsfähiges Wesen, das ist eines unserer Vorteile, die Gott uns gab. Solange man atmet, kann man sich neu erfinden. Die Vergangenheit lastet zwar wie eine Millionen Tonnen auf unseren Schultern und wir können ihr nie ganz entkommen, doch zumindest können wir es versuchen, vielleicht zwar vergeblich, doch bereits der Versuch gibt uns das Gefühl, dass wir etwas aus uns machen, und schließlich sind es auch die Gefühle, die unser Leben bestimmen, nicht nur die Taten, die wir ausüben.



Yukiko bleibt für immer ein Kunstobjekt. Ihre Lieder schrieb sie nicht selbst - sie sang das vor, was Erwachsene ihr vorschrieben, das, was Erwachsene sich vorstellen, dass Kinder und Jugendliche kaufen würden. Sie singt über das erste Date, den ersten Kuss, eines ihrer Lieder heißt "kleine Prinzessin", sie spricht über den Schulabschluss (ob es die Oberstufe ist oder nur die Mittelstufe?): Erwachsene Männer, die sich vorstellen, was so ein Mädchen in dem Alter wohl sagen würde, oder vielmehr, was sie wünschen, was so ein Mädchen sagen würde, oder ihnen damals gesagt hätte. Es ist nicht echt, es kommt nicht von ihr, es ist künstlich, und doch lächelt sie so unschuldig in ihren Bildern. Der unheimliche Kontrast zwischen dieser Unschuld und ihrem brutalen Selbstmord wird dadurch verstärkt, dass sie manchmal mehr, manchmal weniger sexualisiert wurde. Es wird wohl kein Zufall sein, dass sie zwei Tennisbälle hier in diesem Foto hält - doch man kann nicht natürlich sagen, dass es die Hoden eines Mannes darstellen sollen, man braucht eine plausiblen Vorwand, um das zu verneinen, sodass ein Teil der Unterstützer sagen kann: "Nein, du denkst zu pervers, es sind doch nur Tennisbälle", während ein anderer Teil der Unterstützerschaft schon daran denken wird. Natürlich ist das dem Fotografen bewusst ist, der nicht umsonst zwei Tennisbälle in ihre Hand drückte - wer denkt, dass ein Popstar nicht in ihrer Außendarstellung bis ins kleinste Detail kontrolliert wird, der ist wahrlich naiv, und unterschätzt wohl auch den Beruf eines Fotografen obendrein.



Wenn die Menschen Yukiko vermissen, muss man sich fragen: Vermissen sie wirklich Yukiko, so wie sie als Mensch war, oder vermissen sie nur das Bild Yukikos? Warum reden die Leute in Japan noch Jahrzehnte später über sie? Wenn ich das obige Bild betrachte, sehe ich ein Mädchen, das vielleicht noch nicht einmal volljährig war (sie starb mit 18), doch bereits äußerlich attraktiv ist - es ist ein Bild, das verkauft wird, auch in ihren Liedern: Sie ist noch Jungfrau, sie ist verfügbar, sie ist so unschuldig, sie ist noch nicht verdreckt durch andere Männer und den bitteren Gedanken einer erwachsenen Frau, mit all den Enttäuschungen, die das Alter noch bringt. Es ist letztendlich das Wunschdenken vieler Männer, eine Jungfrau zu finden, die man im eigenen Bild formen kann, erziehen kann, die nicht die unnötige Last der Vergangenheit und Ex-Liebhaber hat. Dieses Bild wird auch, wenn auch sehr unterbewusst, in ihren Liedern verkauft: Es gibt keine Referenzen zur Sexualität, nur zur reinen, jungfräulichen Liebe, doch in ihren Promotionsmaterialien gibt es zahlreiche Bilder im Bikini, Bilder, von denen man eigentlich nicht alle zeigen sollte, denn sie war ja noch so jung, wer weiß, ob sie überhaupt verstanden hat, was da so mit ihr gemacht wird. Die Implikation ist, dass Yukiko zwar verfügbar ist, aber sogar so unschuldig ist, dass sie nicht einmal versteht, wie attraktiv sie auf Männer wirkt.

Wer also Yukiko vermisst, der vermisst auch vielleicht seine eigene Unschuld, seine eigene Jugend, vielleicht haben ihre engsten Anhänger etwas Angst vor dem Erwachsenwerden, oder Enttäuschung vor dem Altern und würden am liebsten ewig jung bleiben mit Yukiko, die durch ihren frühen Tod quasi unsterblich wurde. Das "Was wäre, wenn?" ist ein großer Teil ihres nachträglichen Kultes. Sie wird für immer jung, süß und unschuldig bleiben, doch welchen Preis musste sie hierfür zahlen?


Und so liegt sie da, die kleine Yukiko. Dutzende Glamor-Fotos, mit den schönsten Motiven, dem schönsten Lächeln, den schönsten Posen, den schönsten Urlaubsorten, und doch ist es ein Leichnam am kalten Boden, der am Ende dabei rauskam. Ihre Füße sind unbeschuht, denn in Japan gibt es den Glauben, dass man sonst Dreck mit in das Nachleben mitnehmen würde - auch in ihrem Tod war sie noch rein. 

Warum sie sich aus dem Gebäude warf, ist bis heute noch nicht klar - man munkelt, es liege an einer fehlgeschlagenen Liebe mit einem älteren Schauspieler, doch vielleicht war es auch der Druck, immer perfekt, schön, glücklich zu sein vor den anderen, die sie nicht standhalten konnte. Eine 18-Jährige, wie soll sie solchen Druck in besonnener Weise standhalten? Vielleicht kümmerte sich niemand um sie, denn sie war nur dazu da, um für die anderen Geld zu verdienen, um ein Bild vorzuspielen, das es in der Realität nicht gab, voll mit süßen Schulmädchenuniformen, Sonnenschein, Stränden und schöngemachten Frisuren. 

Unmittelbar nach ihrem Tod gab es 19 Mädchen, die sich in der gleichen Weise töteten, eine davon sogar vom gleichen Gebäude - was in Deutschland als Werther-Effekt galt, galt in Japan zu Zeiten der Popidole als Yukko-Effekt ("Yukko" ist ihr Kosename, den die Fans in parasozialer Weise benutzen, weil Fräulein Okada bei ihrem ersten Auftritt im Fernsehen aus Nervosität ihren Namen etwas falsch aussprach und eine Silbe verschluckte).


Egal, wie viel Geld, Ruhm und Macht man hat - die Seele bleibt die Seele und kann sich von solchen Dingen nicht zufriedenstellen lassen. Ferner ist das junge Herz sehr zerbrechlich, sodass es immer mit Liebe, Aufmerksamkeit, Wärme und Zärtlichkeit behandelt werden muss. Wir können zwar nur spekulieren, doch vielleicht wäre Yukiko noch heute bei uns (sie wäre Mitte 50), hätte ihr jemand ein offenes Ohr für ihre Probleme gegeben und ihr einfach zugehört. Vielleicht waren ihre Probleme nicht so groß, wie sie dachte, nein, nicht vielleicht, sicherlich waren sie nicht so groß, wie sie es dachte - doch wenn man mittendrin steht, dann weiß man es oft nicht. Man braucht jemanden von außen, der es dir sagt und dir Unterstützung gibt, doch sie jemanden schien sie nicht zu haben. Sie wurde an den Rand getrieben, wer weiß von wem, und sie ist dann eben vom gleichen Rand gefallen, sieben Stockwerke tief.


Wir sterben, doch was wir hinterlassen, ist unser Werk, sei es doch unsere Nachfahren, sei es durch unsere Hände, sei es durch unsere Schriften, sei es durch unsere Kunst. Ihre zarten Lieder erfreuen uns noch bis heute, und man kann sich nicht behelfen, als in ihre unschuldige Welt hineinzusteigen, egal, wie sehr sie ein Sandburg gewesen sein mag, die bei der nächsten großen Welle in sich krachte und der Ozean mitnahm. Die Sandburg ist nicht mehr da, doch die Erinnerungen daran bleiben, noch viele Jahre später. Es war nie eine echte Burg, es hätte niemanden geschützt, doch das musste sie nicht sein, wir alle sind froh mit der Fantasie, mit dem Sinnbild, das uns die Sandburg gab: Groß, mächtig, schön, beeindruckend. Das ist, was uns damals zählte.


Yukiko Okada - First Date
You’ve always been so kind to everyone.
So when you invited me to the cinema on Saturday,
That was just another whim, right?
But my heart won’t stop thumping.
 
For so long, I’ve been waiting for my chance.
I’m the girl who stands out the least in class.
What made you choose me?
This is like a dream.
Everything’s looking rosy,
On our first date.
 
When it becomes twilight,
I start feeling slightly uneasy.
You cast your eyes downwards,
 
And casually say you’ll walk me home.
Our hands tremble, neither of us can utter a word.
 
Can’t you hear? My heart won’t stop pounding.
People are gonna be talking about us.
How should I face you next time?
Make sure this stays a secret.
 
Someday, I want to say the words ‘I love you.’
Because this is the first time
I’ve felt such heartache.

Yukiko Okada - A Ceremony For Two

Ah… our overlapping fingers, making the shape of a cross,
Why do they sparkle so?
Hey, even a bouquet made of three flowers
Makes my heart throb.

On the campus, as we parted ways,
We made a promise.
A party for two,
With a candle lit.
You were the one who thought
To invite me to dance.

I’m graduating from hesitating.
My love for you is overflowing.
May I close my eyes?
We’ll have a sweet ceremony.
 
Ah… Your back is in reach of my fingers.
Why does that make my heart beat so?
Hey, can I write all the words I can’t say there?
On the campus, as we part ways,
I have a small wish.
A party for two,
Don’t let the stars watch.
If this is a dream, don’t let me wake up.
I entrust the keys of my heart to you.
Please, let me stay like this.
I love you more than I could dream.
I’m no longer afraid.
We’ll have a sweet ceremony.
 
You were the one who thought
To invite me to dance.
I’m graduating from hesitating.
My love for you is overflowing.
May I close my eyes?
We’ll have a sweet ceremony.

(1967 – 1986)